Versuchte Nähe

Gedichte aus einem fernen Land, aus fernen Zeiten. Was berechtigt den, der sie vorlegt, zu seinem Unterfangen? Nicht viel. Vielleicht dies: angerührt zu sein von einem Ton, einer Schwingung, die den Heutigen, über alle Fremdheit hinweg, verbinden kann mit jener uralten Kunst. Das Menschheitliche, die Würde des lauteren Wortes. Es spricht auch heute unverbraucht, wie einst zu den Zeitgefährten der Dichter.
Doch zu den Hürden, den Hypotheken und Fährnissen, denen ich mich, sie deutlich sehend, stellen musste, in der Hoffnung, dass nicht sie es sein werden, die obsiegen. Sondern dass es gelingen möge, ein Weniges von der Kraft, die ich gespürt und glaubte verstanden zu haben, herüberzubringen für den Leser meiner Sprache und Lebenszeit. Zwar habe ich Vietnam besucht mit großer Bewunderung für die geschichtlichen Leistungen und den Mut seines Volkes. Das Vietnamesische ist mir jedoch, bis auf ein paar Grußformeln, unbekannt geblieben. Angewiesen war ich für meine Auswahl, die keine Repräsentanz beanspruchen kann, auf französische Übersetzungen. Nach wie vor ist die Sprache der alten Kolonialmacht ein wichtiger Dolmetsch für das Schöpfertum des Landes. Was mir also, dem Ignoranten, verschlossen blieb: die Melodie des gesprochenen Wortes, der Rhythmus der Verse, die vielen innerliterarischen Bezüge und Anspielungen, mit denen die Dichtungen einander antworten und Reverenz erweisen (auch über die Landesgrenze nach China hin), die Eleganz des Schrift-Bildes, über lange Zeiten hin der chinesischen Kalligraphie verpflichtet, der Zugang des Eingeweihten zur Philosophie des Taoismus und Zen-Buddhismus, die genaue Kenntnis der Landesgeschichte, deren vorn Mithandelnde viele der hier vorgestellten Dichter als Hofgelehrte und strategische Ratgeber waren.
Und was blieb mir? Das Wort in seinem Sinngehalt, über die Brücke einer anderen Fremdsprache angekommen. Dennoch kräftig genug, mich herauszufordern. Vergleicht man die Stimme dieser alten Lyrik mit mittelalterlicher europäischer Dichtung, ist man erstaunt, wie zeitlos sie zu uns spricht. Das liegt gewiss auch daran, dass ihr Dogmatik fremd ist. Kein Bekehrungs- oder Verdammungseifer wird laut. Bei aller Resignation, die der Weltlauf für die Damaligen nicht weniger als für uns Gegenwärtige bereithielt/hält, verdunkelt sie doch nicht die soziale Verpflichtung, die Liebe zum Nächsten, zur dörflichen Gemeinschaft, den einfachen Menschen. Wenn nichts blieb, so doch dies: «mein Herz, rot und treu, rot und treu!» Auch in den Liebesliedern edle Zurückhaltung, und wenn von Übermaß die Rede ist, so ist es ein ästhetisch gebändigtes Übermaß, gebunden in die Zucht der Bilder. Da ist dann der überraschende kühne Ausfall in die Sphäre des bisher Nicht-Sagbaren um so wirkungsmächtiger: Aus der idyllischen Landschaft des Rückzugs hallt ein Schrei, «von dem das Weltall erstarrt».
Manchem wird auffallen und ihn zur Kritik herausfordern: Die reden ja alle ähnlich. Das muss ich auf meine Kappe nehmen. Abgesehen davon, dass die französischen Vorlagen natürlich wenig Raum boten für wesentliche ästhetische Wirkungen des Originals, sprachliche Differenzierung in Lautgestalt und Rhythmus, Mit- und Gegeneinander des Silbenfalls usw. usf. – am Ende bin ich es, der da spricht, zwar aus fremdalten Mündern, aber doch immer einer, der seine eigenen Erfahrungen, Kunstvorlieben, zeitgeprägten Sprachstil nicht verbergen kann noch will. Ich habe mich nach bestem Wissen gemüht, dem jeweiligen Text auf die Schliche zu kommen, um ihn dann herüberzutragen in unsere so ganz anders bewegte Zeit. Wo ich vermutet habe, dass da im Original als besonderes Gewürz auch mal alltagsderb gesprochen wird, habe ich mich nicht gescheut, brüderliche Entsprechungen (besaufen, erwischt – um nur zwei zu nennen) zu finden. Überhaupt habe ich mich nicht verpflichtet gesehen, wörtlich zu folgen – wichtig war mir immer der «über allem herrschende Gedanke», das Gefühlte, so wie es mich ansprang oder ahnungsvoll beschlich. Ihm, dem Geist dieser Dichtung, will die kleine Sammlung genügen.

Wolfgang von Polentz

 

I

Ngo Chan Luu (959 – 1011)

Holz und Feuer


Das Holz trägt selbst im Innern das Feuer,
und immer mal wieder wird es draus neu geboren.
Wie soll man nicht sagen, dass es dort wohnt,
lodert die Flamme doch auf,
bohrst du nur kräftig ins Holz.

V

Khong Lo (? – 1119)

Süßer Müßiggang des alten Fischers

Auf tausend Wegstunden nichts
als der blaue Fluss.
Auf tausend Wegstunden nichts
als des Himmels Azur.
Ein kleiner Rauch verweht über den Maulbeerbäumen.
Vergessenes Dorf.
Der alte Fischer, von keinem gestört,
taucht auf den Grund seiner Träume.
Als er erwacht, es ist Nachmittag,
bedeckt Schnee seinen Kahn.

XV

Tran Minh Tong (1300 – 1357)


Nächtlicher Regen


Der Herbsthauch und meine Lampe
tönen das Dämmer noch fahler.
Auf das Bananenblatt, ganz nah am Fenster,
klimpern die Tropfen.
Sie künden das Ende der Nacht.
Dreißig Jahre vergangen –
wie viele Irrtümer sind das!
Aber wie sich ergeben in nutzlose Trauer,
hört man dem Regen zu, wie er fällt.

XVIII

Nguyen Trai (1380 – 1442)

In der Pagode Tien Zou

Im Abendlicht bind ich das Boot an
und eile hin zum Altar.
Die Wolken säen Frost auf die Matten der Bonzen.
Blüten fallen, der Bach schickt ihren Duft aus.
Um mich das Schnattern der Affen
beim Sinken der Sonne.
Der Bambus streckt seinen Schatten aus
zu den verlassenen Bergen.
Über alle dem herrscht ein Gedanke.
Ich will ihn sagen,
doch das Vergessen obsiegt

XXIX

König Le Thanh Tong (1442 – 1497)

Sehnsucht der Männer im Krieg

Man reicht einander die Hand im Eiswind.
Klare Nacht, hoher Himmel, verloren der Mond.
Aprikosenblüten fallen all die fünf Wachen lang,
sie stacheln das Heimweh ans Dorf.
Ein Tag im Kummer ist lang wie drei Herbste.
Mag die Seele schweifen im Traum,
was bleibt beim Erwachen?
Schnaps macht die Welt vergessen.
Doch man kann sich nicht immer besaufen.
Wartend auf Nachricht der Lieben,
sind wir Gefangene der Angst.
Der Botenvogel der Hauptstadt,
er zeigt sich nur selten.

Am sechzehnten Tag des zweiten Monats
im fünfundzwanzigsten Jahr der Ära der Tugend

XLVI

Le Quang Dinh (1759 – 1813)

Aus: Glückseligkeiten einer Bootsfahrt
auf dem Tieu Tuong

4.
Verse am Abend

Aus den Weilern flieht Rauch.
Nach und nach entkommt auch die Wärme der Umarmung des Flusses.
Die Büffel sind schon zurück ins duftende Gras ihrer Weide.
Das Lied der Fischer vermählt sich dem Wind.
Die Gipfel umragen mich schwarz
wie umgestülpte Teekessel.
Vor mir das Wasser gebreitet wie Seide.
Heda, Bursche, bring Pinsel und Tinte,
auf dass ich die Reime kann halten,
in Verse zu bannen das, was ich fühle.