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Wenngleich meine Geschichte der Vergangenheit angehört, will ich sie doch nicht mit der Arche Noah beginnen und einer Aufreihung von Ahnen, wie es die Art der alten spanischen Historiographen in Amerika ist, die die Vorbilder unseres Berufes sein sollen. Ich habe viele Gründe, ihrem Weg nicht zu folgen, doch übergehe ich sie, denn ich will nicht weitschweifig werden. Nur soviel sei gesagt: Die Ereignisse meiner Erzählung haben sich um das Jahr 183. unseres Herrn Jesus Christus zugetragen. Wir durchlebten gerade eine Fastenzeit, und das Fleisch in Buenos Aires war knapp. Die Kirche, dem Gebot des Epiktet folgend – «Dulde und enthalte dich!» –, hatte den Mägen der Gläubigen Schlaflosigkeit und Leere verordnet, denn das Fleisch ist sündig und drängt sich, wie das Sprichwort weiß, nur wieder zum Fleische hin. Und weil die Kirche von Anbeginn an und durch den unmittelbaren Willen des Herrn die immaterielle Herrschaft über das Bewusstsein wie auch die Mägen ausübt, die beide nur in einem gewissen Umfang dem einzelnen Menschen gehören, so ist nichts gerechter und vernünftiger, als dass sie dem Bösen wehrt. Die Lieferanten, gute Föderale und selbst brave Katholiken, wohl wissend, dass dem Volk von Buenos Aires eine einzigartige Fügsamkeit eignet, sich jeder Art von Befehlsgewalt zu unterwerfen, karrten an den Tagen der Fastenzeit nur so viele Jungrinder zum Schlachthof, wie für die Speisung der Kinder und Kranken gebraucht wurden. Diese sind ja durch die päpstliche Bulle von der Enthaltsamkeit befreit. Keinesfalls fiel es ihnen dabei ein, die wenigen Häretiker, die es immer gibt, zu sättigen, Menschen, die zu jeder Stunde bereit sind, die das Fleisch abtötende Autorität der Kirche zu missachten und die Gesellschaft mit ihrem schlechten Beispiel anzustecken.

 

Francisco de Goya, Capricho 80: «Die Stunde schlägt.»

 

Kaum hatte der Richter sein Urteil gesprochen, machten sich vier blutbesudelte Büttel über den Jüngling her und streckten ihn der Länge nach auf den Tisch, wo sie ihm Arme und Beine festpressten. «Schneidet mir lieber die Kehle durch, als dass ihr mich entblößt, infame Kanaillen!» Sie knebelten ihn mit einem Tuch und schickten sich an, ihm die Kleider vom Leibe zu zerren. Der Jüngling krümmte sich, versuchte mit den Füßen zu treten und knirschte mit den Zähnen. Seine Glieder gewannen bald die Biegsamkeit einer Gerte, bald spannten sie sich eisenhart, und das Rückgrat wand sich wie eine Schlange. Schweißtropfen, groß wie Perlen, flossen über sein Gesicht, die Augen sprühten Funken, der Mund schäumte. Die Venen des Halses und der Stirn traten dunkel auf dem Hintergrund der weißen Haut hervor, als wäre in ihnen das Blut zum Platzen angestaut. «Bindet ihn zuerst richtig fest!», rief der Richter. «Er tobt wie tollwütig», antwortete einer der Kerle. Im Nu banden sie ihm die Beine an den Füßen des Tisches fest, so dass er nun bäuchlings hingestreckt auf der Platte lag. Das Gleiche wollte man mit seinen Händen tun, wofür zunächst die Fesseln hinter dem Rücken gelöst werden mussten. In dem kurzen Moment, in dem er sich frei fühlte, bäumte sich der junge Körper in jäher Empörung auf. Er legte seine ganze Leidenschaft in sie, sie strömte zuerst in seine Arme, dann in seine Knie, bis sie in dem Augenblick versiegte, in dem er flüsterte: «Schneidet mir lieber die Kehle durch, als dass ihr mich schändet, verfluchte Kanaillen!» Seine Kräfte waren am Ende. Sofort, nachdem er so gekreuzigt dalag, begann man ihn auszuziehen. Da brach ein gurgelnder Strom aus Mund und Nase des jungen Mannes. Das Blut breitete sich aus und lief an beiden Seiten des Tisches zur Erde. Die Folterknechte standen starr, die Zuschauer sprachlos. «Der wilde Unitarier ist an seiner Tollwut geplatzt», sagte einer.